Heute ist der 26. Dezember 2019, der zweite Weihnachtsfeiertag.
Wie haben die Obdachlosen Weihnachten verbracht? Die Heilsarmee hat eine Feier veranstaltet, Jugendliche verteilten Geschenke an Wohnsitzlose, der Freiburger Essenstreff rief dazu auf, aus Plastikflaschen wärmende Jacken für Freiburgs Wohnungslose zu fertigen. So lese ich in der Zeitung und im Netz. Und bin so dankbar, warm zu haben.
Ein Zwischenbericht von Renate Obermaier und Heinzl Spagl
Interessiert uns das Leben von Wohnungslosen deshalb so sehr, weil uns bewusst ist, dass das sogenannte Prekariat so fern nicht ist?
Wir haben das Glück unserer Arbeit, und das ist unschätzbar, es passt zu unserem Selbstbild, „alles“ für die Arbeit zu geben und dafür keine adäquaten finanziellen Gegenleistungen zu erwarten, aber ein bisschen mehr soziale Sicherheit und ein bisschen weniger Bereitschaft zur Selbstausbeutung täte allen gut.
Versucht also unsere Zuwendung zu Freiburger Wohnungslosen eigene Ängste zu verarbeiten, die eigene Nähe zu den armen Leuten zuzulassen? Denn wie Luisa Faller und Günther Zinnkann sagen: es kann jeden von uns treffen.
Und nicht zuletzt: Wir möchten in der 900-Jahrfeier das „Leben ohne Dach“ oder unter einem „wackligen Dach“ präsenter machen. Denn 900 Jahre Freiburg bedeuten auch: 900 Jahre Obdachlosigkeit in Freiburg, ein Leben am Rand, unsichtbar gemacht und oft geächtet.
Die 900-Jahrfeier bietet die Gelegenheit, einige wenige Obdachlose, jenseits sozialer Statistiken, wahrnehmbar zu machen, ihnen ein individuelles Profil zu geben. Denn diejenigen, die am Rand leben, gehörten und gehören zur Stadt.
Heute, am 16. Januar 2020, Günther Zinnkann, den früheren Polizisten und jetzigen in der Obdachlosenszene ehrenamtlich Arbeitenden getroffen – er hat weiße Haare, ist zurückhaltend freundlich und trägt ein dunkelkariertes Hemd.
Er führte uns zu den Schlafplätzen in der Nähe des Essenstreffs, Heinzl und ich kamen uns vor wie zwei Voyeure, hätten uns am liebsten unsichtbar gemacht angesichts misstrauischer Blicke von Seiten der Bewohner der Matratzenlager, verstohlen schauten wir uns um und staunten, wie heimelig sich manche ihre Schlafplätze eingerichtet haben – es gab viele kleine persönliche Gegenstände, Kerzen, Bilder, schöne Decken. Und uns beeindruckte, mit welch verhaltener Herzlichkeit und Zuwendung Günther die Marken für den Essenstreff verteilte (ein Essen kostet 2,50), alle schienen ihn zu kennen, ihm zu vertrauen.
Dann erstmal wieder Rückzug in Lektüre: Von Richard Brox „Kein Dach über dem Leben, Biographie eines Obdachlosen“, von Thomas Steiger aus Emmendingen „Der Penner, 5 Jahre obdachlos in Deutschland“ gelesen und in die Masterarbeit von Luisa Faller hineingeschaut:
„A qualitative study exploring the strengths and resources of thriving homeless middle age adults, living in Freiburg“.
Luisa Faller interessiert sich dafür, „what the homeless themselves perceive. There are homeless individuals, which do not give up.“ Für ihre Arbeit für die Europa Universität Flensburg hat Luisa Faller Leute interviewt, die mindestens 1 Jahr obdachlos und zwischen 40 und 60 Jahren alt waren.
Familie los, Freunde los, Job los, Wohnung los, Trennung und Scheidung: Diese Erfahrungen gehen meistens dem Leben auf der Straße voraus. Und manche würden sich auch ganz bewusst für dieses Leben entscheiden.
Viele Studien belegen, dass ein „main stressor“ der negative und abwertende Blick der sogenannten Normalen, mit Obdach Lebenden auf die Obdachlosen sei.
„Feelings that appear as stressors are fear, loss, distress or anxiety.“ Als „eigene Probleme“ würden „mistrust in others, inner hardening, isolation, difficulties of finding the inner balance, depression or pessimism“ genannt.
Hilfreiche Aktionen gegen diese Zustände:
Beten, die Bibel lesen, Selbstkontrolle üben, „playing games, making music, eating and drinking, reading, writing or painting“. Und: Reisen!
Ganz wichtig bei vielen: „Nature as source of life, belief in mother earth“. Viele würde gern Gras rauchen.
Beide Kontakte, sowohl zu Günther Zinkann als auch zu Luisa Faller verdanken wir Anna Faller, der Leiterin des Freiburger Essenstreffs in der Schwarzwaldstraße. Sie ist die Seele dieses Hauses, bei ihr fühlten wir uns gleich willkommen. Anna ist eine emsige, überaus tüchtige Person, flink wie ein Wiesel, mit großem Organisations-talent und einem umwerfenden Schalk in den Augen. Sie kann mit all ihrer Energie und Strenge Geborgenheit vermitteln, weil sie gerade heraus ist und niemals falsch freundlich sich verhält.
Am 13. Februar uns mit Sabine Dietsche, der Leiterin, und Katja Weeke, der Vorstandsvor-sitzenden des Kleiderladens, getroffen. Haben eine 3 Zusammenarbeit angedacht.
Der Kleiderladen möchte eine Art Modenschau veranstalten, eine Gelegenheit zum lustvollen Sich-Verkleiden bieten. („Kleider machen Leute?“) Prekär Lebende und Wohnsitzlose gehören auch zur Kundschaft des Kleiderladens. An diesem Nachmittag werden Fotos gemacht, und, inspiriert durch unser Projekt „Unter Freiburgs Dächern ohne Dach“ sollen – mit Bild und Text - Porträts von drei Obdachlosen entstehen, die dann auf dem Boulevard des Engagements am 11. Juli präsentiert werden. Vielleicht geht das was zusammen …
Heute, am 5. März 2020, mich endlich (allein) in die „Pflasterstub“ reingetraut, nach drei Anläufen! Kaffee getrunken, Zigarette geraucht, Bi. begegnet. Ein ausführlicheres Treffen mit ihr für den 12. März um 9 Uhr ausgemacht.
Gestern Abend Reinhild Dettmer-Finkes Film „Irre“ über die Hilfsgemeinschaft für psychisch Kranke in der Schwarzwaldstraße angeschaut. Dieser Film fasziniert durch die anrührende Genauigkeit, mit der die wachsende Nähe zwischen Filmschaffenden und der Klientel in der Hilfsgemeinschaft dokumentiert wird.
Die psychisch Kranken sind ähnlich „neben der Spur“ wie die Menschen ohne Wohnung, ohne Bleibe, ohne Familie. Oft kommt beides zusammen: die psychische Erkrankung und der Verlust aller Wurzeln.
Unser Interesse für diese Gruppen ist von daher so groß, weil wir alle wissen, dass jede, jeder von uns stolpern, aus der Spur geraten kann.
Anziehung und Abstoßung. Auch Anflüge einer erschrockenen Abwehr gibt es. Als ich vor 2 Wochen den Essenstreff betrat, wollte ich gleich wieder rückwärts raus. Der Raum stank. Von nass-feuchten Stoffen und ungewaschenen Körpern. War das nur Einbildung?
Überkam mich der Schrecken, sich hängen zu lassen, zu verwahrlosen, jede Zuwendung zu sich selbst zu verweigern? Eine Art langsamen Selbstmord begehen. Sich selbst und die ganze Welt nicht mehr leiden können. Man wird sich selbst zur Last, das ist das Schlimmste.
Doch gleichzeitig und vor allem gibt es Situationen, in denen alles so „normal“ und debattierfreudig abläuft wie in anderen geselligen Runden auch.
Als ich das erste Mal in der Pflasterstub´ Bi. begegnet bin, war ich vor allem beeindruckt: von ihrer kräftigen großen Gestalt, von ihren markanten Gesichtszügen unter grauem Haar, von ihrer Großzügigkeit und Offenheit und ihrer niedlichen, aber wehrhaften spitzschnäuzigen Hündin Sahra, die mich, ohne zu knurren, am Tisch duldete. Schnell war klar, dass Bi. eine zentrale Figur in der Pflasterstub´ ist, später im Gespräch bezeichnete sie sich selbst als „Mutter der Pflasterstub“, oft arbeitet sie am Tresen, gibt Kaffee und Frühstück aus, sie kennt alle Gäste und all ihre Nöte.An dem Tisch, an dem ich neben Bi. saß, die Füße neben Hündin Sahra, war ein lebhaftes Gespräch im Gang. Über Elektrosmog und seine enorme Schädlichkeit.
Wo immer Menschen zusammenkommen und miteinander reden, gibt es Feinde. In Reinhild Dettmer-Finkes Film “Irre“ wird heftig gegen die Klassengesellschaft, die Psychiatrie und die Psychopharmaka gewettert, an meinem ersten Vormittag in der Pflasterstub ging es um Elektrosmog und Handystrahlung. Der Mensch muss sich von anderen Menschen absetzen, sonst rutscht er vom Stuhl … Dann fing der Mann, der am wortreichsten die andern am Tisch zu überzeugen versuchte, auf diejenigen zu schimpfen an, die sich durch Alkohol und andere Drogen umbringen würden; mit denen möchte er nichts mehr zu tun haben, „aber gar nichts“, den Überlebenden gehe es schlecht, den Toten sei alles scheißegal, die seien „erlöst“, von daher wolle er sich von vorneherein auf keine Leute mehr einlassen, die süchtig sind.
Bi. und ich waren für Donnerstag, den 12. März, um 9 Uhr in der Pflasterstub´ verabredet. Ich kam um 5 nach 9. Bi. stand da, in ihrer vollen Größe, aber einem ausführlicheren Gespräch mit mir alles andere als zugeneigt. Es gehe ihr schlecht, der Mann ihrer Freundin sei gestern ins Krankenhaus gekommen, wegen kleiner Nierensteine, heute werde er operiert, sie, Bi., sei völlig fertig. Sie sollte mich noch oft hinhalten und versetzen, bis es dann fast 6 Wochen nach dieser ersten Verabredung endlich zum Interview kam. Aber immer war´s freundlich zwischen uns, sie begrüßte mich nett, im hintennach bin ich froh, dass Bi. sich so lang gedrückt hat, denn so, in ihrem Schutz und mit der Aussage, dass ich auf Bi. warten würde, mit Bi. verabredet sei, konnte ich mich problemlos auf dem Platz vor der Pflasterstub hinter der Stadtbibliothek herumtreiben und mit verschiedenen Leuten selbstverständlich ins Gespräch kommen oder mich einfach umschauen, ohne blöd angesprochen zu werden.
An jenem Donnerstag, dem 12. März, als wir zum ersten Mal „offiziell“ verabredet waren, gab ich Bi. meine Handynummer, aber nie rief sie mich an, es lag an mir, ihr hinterher zu laufen, um sie zu werben.
Um von sich selbst abzulenken, machte mich Bi. an diesem Donnerstagmorgen in der Pflasterstub auf eine andere Frau aufmerksam, die auf der Bank neben dem Tresen saß. Wie eine Realschul- oder Gymnasiallehrerin wirkte sie, die Zurückhaltung in Person. „Sprich´ mit ihr“, sagte Bi., „die schläft draußen.“ Die Zurückhaltung in Person sagte, dass sie keine Nacht mehr drinnen verbringen möchte. Ich fragte die Frau, ob sie bereit sei, kurz mit mir zu sprechen, die Frau sagte: „Sie sehn doch, dass ich am Gehen bin, ich möchte jetzt nicht plaudern, habe schon viel zu viel geplaudert, immer will jemand mit mir plaudern.“ Sie sprach in einem leisen, klar und bestimmt artikulierten Hochdeutsch; nachdem sie ihre Kaffeetasse auf den Tresen gestellt hatte, war sie verschwunden.
„Unter Freiburgs Dächern ohne Dach“: ein langer Weg! Zu denjenigen ohne Dach zu gelangen – das ist nicht leicht, oft riegeln sie die inneren Türen vor denjenigen ab, die ein Dach haben - das kann man verstehen.
Die Straßen leer, die Straßenbahnen auch, die Kneipiers und Kleinladenbesitzer verzweifelt: bald laufe der eine Kredit aus, dann müssten sie einen neuen aufnehmen und jetzt: keine Kundschaft, keine Cateringaufträge, die verordnete Ebbe sei unabsehbar, der Schuldenberg wachse.
Der Essenstreff in der Schwarzwaldstraße ist geschlossen, ein Fenster war heute um 13 Uhr offen, Essen wurde gereicht, doch die Kunden dürfen nur essen, dann müssen sie gehen, sie dürfen sich nicht aufhalten. Anna Faller verkündete diese neue Regel wie ein strenges Burgfräulein am Fenster, verlegenes Grinsen antwortete ihr, doch die Ratlosigkeit war zu spüren.
Später frage ich Anna, wo sich die Wohnsitzlosen jetzt treffen könnten, Anna meinte: bei den Schlafplätzen vielleicht.
Was sollten wir selber tun? Uns zurückziehen? Das strikte Kontaktverbot einhalten? In dieser gesamtgesellschaftlichen Notlage uns nicht mehr um die Lage der Ärmsten der Armen kümmern? Das hätte sich kaum mit unserem Jubiläumsprojekt über die Obdachlosen vereinbaren lassen.
Also hielten wir Abstand und machten uns weiter auf die Suche. Wir – das waren Judith Fehrenbacher, in eigenen Recherchen unterwegs, Heinzl Spagl und ich.
Am 26. März bei der Pflasterstub vorbeigefahren. Der Betrieb läuft, die Leute können duschen und bekommen Frühstück, allerdings dürfen sich nicht mehr als sieben Personen in den Innenräumen aufhalten. (Zwei Wochen später durften nur noch jeweils drei rein.) Nach Dusche und Frühstück: Schichtwechsel, die, die drin waren, müssen raus, dürfen aber nicht zu eng beieinanderstehen, gestern sei die Polizei da gewesen, erzählt eine Betreuerin. Der Arzt komme nach wie vor zweimal in der Woche, doch die zwei ehrenamtlichen Krankenschwestern, die sonst in der Pflasterstub arbeiten, gehörten zur Risikogruppe und müssten zu Hause bleiben.
„Wo soll denn Ihre Klientel jetzt tagsüber hin? Jetzt, da es wieder so kalt geworden ist?“ frage ich, die Frau schaut ratlos, „das weiß ich auch nicht“.
Mit einem Klienten, der vor der Treppe zur
Pflasterstub stand, kurz gesprochen. Er wirkte nicht ärmlich, nicht vom Alkohol gezeichnet, seine Hand zitterte, nimmt er Medikamente? Wie ein Einzelgänger wirkte er. Wir sprachen über das Wetter. „So, wie die Sonne scheint, ist es Frühling, aber die Luft ist so kalt wie im Winter!“ sagte er. „Frieren Sie nicht!“ rief ich, aufs Rad steigend, er lachte leise. „Wie soll ich das denn anstellen?“ schien dieses Lachen zu sagen.
Beim Essenstreff in der Schwarzwaldstraße war viel los. Essen wurde ausgegeben. Auf Abstand wurde geachtet. Auch mich ermahnte eine Frau, die aus dem Fenster Essen reichte. Beim Versuch, mich nach Anna zu erkundigen, war ich jemandem in der Warteschlange zu nahe gerückt.
Ein Glück, dass es nicht regnet!
Am 29. März regnet es. Es hat sogar kurz geschneit. Der Himmel ist grau, die Luft kalt, ca. 5 Grad.
Wir treffen uns mit Sophie Ostermann, einer jungen Frau, die Soziale Arbeit studiert und zur Zeit unentgeltlich beim Essenstreff aushilft; alle sind begeistert von ihren raffiniert belegten Brötchen und den liebevoll dekorierten Desserts, die sie zubereitet.
Sophie erzählt, dass viele Spenden gekommen seien, sodass sie zur Zeit selber kochen könnten und die Leute das Essen umsonst bekämen.
Jetzt würden mehr Kunden als vor der Corona-Zeit kommen, viele hätten ihren Job verloren. Auch sei der Verkauf der Zeitschrift „Freie Bürger“, für etliche Obdachlose eine wichtige Einnahmequelle, wegen Corona eingestellt worden. Es sei sehr unterschiedlich, wie und ob Corona vom Essenstreff-Klientel ernst genommen würde.
Bestimmte Versorgungslücken und Problemfelder würden während des Corona-Lockdowns noch sichtbarer als davor: Es fehlen öffentliche Sanitäranlagen, sagt Sophie. Wohnsitzlose Frauen würden zu normalen Zeiten die Toiletten in Kaufhäusern aufsuchen. Wohin sollen sie jetzt?Auch müsste es, mit und ohne Corona, mobile Dusch- und Reinigungsmöglichkeiten geben. Und: Wo kann man die Kleidung wechseln? In den Niederlanden gebe es öffentliche Spinde. Sie bedauert auch, dass es hier keinen Erfrierungsschutz gibt.
Doch das Schlimmste sei der Regen, sagt Sophie. Wohin mit den durchnässten Kleidern? Vor allem beschäftigt sie die Frage, und das hat nichts mit Corona zu tun, wie man mehr Infrastruktur schaffen kann.
Vor allem für wohnsitzlose Frauen. „Wie können Frauen auf der Straße mehr geschützt werden?“
Uns fiel die Hotelbesitzerin in Brügge ein, über die im „Weltspiegel“ berichtet worden war: Während der Corona-Zeit lässt sie Obdachlose in den Hotelzimmern wohnen; als Gegenleistung halten die neuen Gäste das Haus in Ordnung und helfen in der Küche.
„5 Grad soll es heute Nacht werden“, sagte mir ein regelmäßiger Gast des Essenstreffs am 30. März. Lange dunkle Haare hat er, dunkle Augen, eine Nase, die vom Alkohol erzählt. Kein unsympathisches Gesicht, oft betritt er den Platz mit „großem Gepäck“, eine Gitarre in großer Tasche fällt auf. Er erzählte, dass er sich manchmal in den Zug nach Kirchzarten setzt, um sich ein bisschen aufzuwärmen. Nicht Corona ist für diese Leute das größte Problem, sondern die Unmöglichkeit, sich bei diesem Wetter in geschlossenen Räumen zwischendurch aufzuwärmen. Corona sei einfach blöd, sagte er, nirgendwo dürfe man zusammenstehen, überall müsse man weg. Aber er sei krisenerprobt!
Unterm Vordach des Essenstreffs setzte ich mich zu einer Frau mit blonden Haaren und einem hellen Gesicht. Wir kamen ins Gespräch, achteten auf den Corona-Abstand und sie erzählte, dass sie am vergangenen Freitag ein Zimmer bekommen habe, sie sei selig. In der Oase sei es unerträglich gewesen, zu dritt auf einem Zimmer –„ und diese Engländerin“! M. sagte, dass sie weder Alkohol- noch Drogensucht bei ihresgleichen („Wohnsitzlose“ sollte man sagen, die Bezeichnung „Obdachlose“ würde eher diskriminieren, belehrte sie mich) erträgt. Wenn viele Wohnsitzlose infolge ihrer Sucht nicht so verkommen wirken würden, wäre die einheimische sesshafte Bevölkerung viel freundlicher, viel gastfreundlicher.
M. hält sich seit dem 17. Februar in Freiburg auf; Freiburg sei „ihre Stadt“, hier wolle sie bleiben. Die Möglichkeiten und Angebote für Wohnsitzlose seien hier ausgesprochen gut. Ich fragte, wo man abends hinkönne. Bei Mac Donalds könne man sitzen, die seien sehr großzügig, erzählte M. In der Bahnhofsmission könne man sich auch aufhalten, „sehr nette Leute arbeiten dort“.
Sie selbst habe früher oft draußen geschlafen, allein. Ein Zelt wollte sie nie, da wisse man nicht, wer sich anschleicht, man müsse aufpassen … Mit Schlafsack und Decken sei sie versorgt „und ein bisschen Angst ist halt immer dabei!“
Wir haben uns für den nächsten Donnerstagvormittag verabredet.
Um den 3. April herum ist es tagsüber wärmer geworden. Die Nächte bleiben kalt.
„Abstand! Abstand!“ schrie ein Kunde des Essenstreffs heute.
Vergeblich hielt ich nach M. Ausschau, mit der ich gestern verabredet war, aber sie war nicht aufgetaucht. Die Stimme des Mannes, der schreiend gemahnt hatte, Abstand zu halten, kam aus einem massigen Körper, der sowohl von Lethargie als auch von maßloser Wut bewohnt war.
Vorgestern haben Judith und ich mit Anna Faller, der Leiterin, und Horst Zahner, dem Gründer und Hauptlieferanten des Freiburger Essenstreffs, über die Auswirkungen von Corona gesprochen. Zur Zeit müssten die Bedürftigen und Obdachlosen draußen das Essen einnehmen, nächste Woche aber sollten Stellwände um jeweils einen Tisch herum aufgestellt werden, so könnten die Kunden drinnen essen, auch wenn sie - nach einer Viertelstunde etwa - den Platz wieder räumen müssten. Denn auf ein Dach überm Kopf komme es doch an, zumindest kurz, draußen würden sie sich zur Zeit von Corona mehr als genug aufhalten. Auf dem Gelände hinter dem Essenstreff dürften sie nicht zu eng beieinanderstehen, daran würden sie sich halten, sie seien einsichtig und diszipliniert. Die Polizei würde immer mal wieder vorbeischauen und wohlwollend, nicht streng, kontrollieren. „Die sind ja froh, dass es uns gibt!“ sagten Anna und Horst Zahner im Chor. Allerdings.
Bei diesem Treffen wirkten Anna Faller und Horst Zahner wie lang erprobte Bündnispartner. War dieser Eindruck trügerisch? Wir fürchten: ja. Denn, wie wir später erfuhren, sei Horst Zahners Plan, die Stellwände im Essenstreff einzuziehen und nach jedem Besuch einer Essenszelle alles zu desinfizieren, mit Anna Faller und ihrem Team zu wenig abgesprochen worden. Von einem Partner erwarte man gemeinsame Entscheidungen, keine Direktiven.
Wenn man draußen mit den Leuten über Corona spricht, schütteln manche den Kopf. Das sei alles ein Wirtschaftskomplott, die Wirtschaft stünde hinter dieser Corona-Panik, meinte B., eine hohe Gestalt mit langen weißblonden Haaren; obwohl er seit einem schlimmen Straßenbahnunfall einen Stock braucht, strahlt er eine merkwürdige Vornehmheit aus. „Deichgraf“ würden sie ihn zu Hause nennen, das passt.
Jedenfalls meinte B., die Corona-Maßnahmen seien Ergebnis eines Wirtschaftskomplotts und ein anderer faltete unendliche Zahlenkolonnen auf, um mir zu beweisen, dass die Ansteckungsrate niemals so hoch werden könne, wie prognostiziert werde. Er verwies auf einen Mathematikprofessor, den er gut kenne. Auch er war ein gebildeter Mensch, nur mittlerweile eingesponnen in einen in seinem Kopf vor sich hin ratternden Rechenapparat.
Bislang ist mein Eindruck, dass die meisten Obdachlosen die Gefährdung durch Corona nicht sehr ernst nehmen.
„Wenn wir bei minus 10 Grad draußen schlafen können, und bei dem Leben, was wir hinter uns haben und führen müssen, kann uns Corona doch nix anhaben“, zitierte Anna einen Kunden.
„Kein Mensch weiß, was Corona wirklich bedeutet“, sagte B. an einem anderen Vormittag dieser Woche, „Corona ist der Strahlenkranz der Sonne“ und er schüttelte über die so weit verbreitete Abwesenheit von wirklicher Bildung konsterniert den Kopf.
Leider haben wir Christian Schmitthenner, den Arzt, der in die Ferdinand-Weißstraße und in die Pflasterstub zwei- bzw. dreimal in der Woche kommt, noch nicht angetroffen. Ihn hätten Heinzl und ich gern gefragt, wie sich Corona auf den Gefährdungs- und Gesundheitszustand der Obdachlosen auswirkt. Später erfuhren wir von ihm, dass es bisher keine Infizierten in der Szene gibt.
Letztens, am Nachmittag, saß auf einer Bank in einem kleinen Park ein sogenannter Penner, ich glaubte ihn an seinem üppigen Gepäck, das neben ihm lag, zu erkennen; ihm gegenüber im Abstand von 1,5 bis zwei Metern, saß ein Kollege auf dem Boden, sie unterhielten sich. Die Vorschrift, Abstand zu halten, hielten diese beiden auffällig gewissenhaft ein.
An dem Vormittag im Vorgärtchen des Ferdinand-Weißhauses (dort kann man duschen, frühstücken, Wäsche waschen, die Post und sein Geld abholen), als wir zu Christian Schmitthenner wollten, begegneten wir zwei Männern, die sich in unsere Nähe setzten und wissen wollten, was wir hier suchen. (Wobei ich häufig auch für eine Kundin gehalten werde, am Anfang…)
Der erste Mann, mit dem wir ins Gespräch kamen, hatte rötlich-braune Haare, sie wirkten zunächst, als seien sie gefärbt, er trug eine Art Pony, hatte ein männlich hübsches Gesicht, etwas Djangoartiges strahlte er aus, hellbraune Westernstiefel mit Absatz und vorne spitz zulaufend, hätten zu ihm gepasst, aber er trug Turnschuhe.
Er erzählte, dass er, ein gebürtiger Freiburger, aus seiner Wohnung geflogen sei, weil er angeblich zu laut war, das stimme aber nicht, seitdem lebe er auf der Straße, er übernachte nicht in der Oase, „never“. Er schlafe draußen, den Winter habe er gut überstanden.
6 Kinder von 4 Frauen habe er, aber keinen Kontakt mehr, „die kommen schon irgendwann“, die älteste Tochter sei 38.
Was er den ganzen Tag so treibt? Er laufe herum. Zum Essenstreff gehe er zur Zeit nicht, er habe kein Geld, ich vergaß blöderweise zu sagen, dass es das Essen zur Zeit umsonst gibt.
Wir lachten oft miteinander, er hangelte sich von Witz zu Witz, er schien uns unterhalten, die Zeit vertreiben zu wollen; als seine Wäsche fertig war, ging er.
Heinzl fragte er zwischendurch: „Und – obdachlos?“ Heinzl: „Ne, arbeitslos“.
Und Heinzl fragte nach der Begegnung mit „Klein-Django“: „Gibt es ein Muster im Verhalten vieler Obdachloser? Keine Verbindlichkeiten! Sich unterhalten, ja, aber nicht irgendwo reingezogen werden!“
Es wird ein bisschen was erzählt, aber vor allem viel verschwiegen. Kommt es in diesen Begegnungen auf den Kontakt an, auf das Sprechen als solches? Viele sind ein wenig geschmeichelt, dass sich Leute außerhalb ihrer Szene für sie interessieren, aber damit hat sich´s auch.
Beide Männer, denen wir an diesem Vormittag begegneten, sind Einzelgänger.
Auch J. Früherer Dachdecker, jetzt Koch, Radfahrer und vor allem: Maler.
Er hat das große Glück, ein Dach überm Kopf gefunden zu haben, er lebt als geduldeter sogenannter „Instandbesetzer“, das Haus, das er jetzt bewohnt, hat er selbst aufwendig-mühsam entmüllt und gesäubert, vieles repariert und in Ordnung gebracht. Die Wände hat er bemalt. Er müsse immer malen, sagt er, auch nachts. Seinen Farbentanz schaffen.
J. ist ein wenig unstet, mit seinen langen hellbraunen Haaren wirkt er wie ein ewiger Student aus einer anderen Zeit. Auch er hüpft von einer Episode zur nächsten. J. trägt eine Brille, er hat nur noch ein Auge, das andere habe er verloren, nachdem ihm, als er mit dem Fahrrad einen Berg hinunterfuhr, eine mit Streptokokken infizierte Fruchtfliege ins Auge geflogen sei, sehr schlimm habe sich dann das Auge entzündet …
Eigentlich möchte J. auf Weltreise gehen, das sei sein Traum, sagt er. Mit dem Fahrrad nach Afrika fahren und dort den Armen helfen!
Doch jetzt bleibt er erstmal hier. Man weiß nicht wirklich, wie es ihm geht, er strahlt etwas Zukunftsfreudiges, sprunghaft Tatkräftiges aus. Wir möchten ihn bald in seiner Bleibe besuchen. Zum Abschied drückt er uns herzhaft die Hand.
In den nächsten Tagen von zwei unerfreulichen Wohnungsgeschichten gehört.
In der Nähe der Pflasterstub Mk. getroffen, habe ihn über Bi. kennengelernt. Mk. ist Koch von Beruf, er erzählte, dass er aus seiner Wohnung in S. geflogen sei, weil ihm vorgeworfen werde, die Haustür eingetreten zu haben; alle seine Möbel seien entwendet worden. Der Vermieter habe ihn raussetzen wollen, weil er seiner Tochter die Wohnung geben wollte. Außerdem sei der Vermieter ein Freund seines Chefs, so habe er Arbeitsstelle und Wohnung auf einen Schlag verloren. Mk. hofft, den Prozess gegen seinen Vermieter zu gewinnen, Polizei und Ordnungsamt würden ihm Mut zusprechen.
Mk. kam 2013 aus Erfurt nach Freiburg, er macht einen zurückhaltenden, eher schüchternen Eindruck. Seit einiger Zeit schläft er draußen, „das geht schon“, meint er, „man gewöhnt sich dran“. Corona war kein Thema mit Mk., ein älterer Pflasterstub-Besucher verkündete, die Einschränkungen würden bis zum 30. April gelten, dann würde alles wieder gelockert werden. Das wisse er „aus sicherer Quelle“. Eine Frau beschwerte sich über die Mundschutzpflicht, da schaltete ich mich ein und sagte, das sei schon sinnvoll, einen Mundschutz zu tragen, doch für mein Geplapper interessierte sich niemand. (Ich gehöre nicht zur Ingroup, also bin ich nicht wichtig .)
Die andere Wohnungsgeschichte: S., eine Freundin von M., die ich irgendwann doch noch beim Essenstreff angetroffen hatte, saß in wattierter Jacke, mit Schal und Mütze auf ihrem Stuhl – in ziemlich warmer Frühsommerluft. Sie erzählte vom Schimmel in ihrer Wohnung, alles würde stinken, auch die Matratze sei angeschimmelt, der Vermieter mache nichts, im Gegenteil: Er bezichtige sie, seine Mieterin, am Schimmel schuld zu sein, denn sie habe nasse Wäsche in den Schrank gelegt, aber das würde sie doch niemals tun, „nicht wahr“? Mit der Mietervereinigung ist S. im Kontakt.
War Bi. meine Gewährsfrau im Umfeld der Pflasterstub´, so war B. der „Empfangschef“ im Umfeld des Essenstreffs. Wenn wir das Essenstreff-Areal betraten, winkte uns B. zu. Ein ausführlich freudig freundliches Sich-Begrüßen folgte. Was wird er uns heute wieder erzählen, fragten wir uns, und B. erzählte immer. Es gibt zwei, drei verschiedene Varianten seines Lebenslaufs, mindestens.
Aber: Kommt es auf den Wahrheitsgehalt seiner Geschichten wirklich an? Er finde sich manchmal selbst nicht mehr im Gestrüpp seiner Erzählungen zurecht, hat er einmal gesagt.
Was Judith und mich überrascht hat, war, dass wir gern mit B. gesprochen haben, egal, ob wir dem Gesagten glauben konnten oder nicht. Man verstand sich „jenseits des Wahrheitsgehalts“.
B. hat Charme, eine, auch wenn er Unfug redet, entschlossen gepflegte Ausdrucksweise und
jenen Gran Selbstironie, der für eine gelingende Kommunikation unter Fremden unerlässlich ist.
Am 15. April Telefonat mit Herrn Heidemann, dem Leiter der Oase.
Die Oase ist eine wichtige Freiburger Notunterkunft; unter dem Dach der Oase gibt es neben der Notunterkunft ein Wohnheim mit 100 Plätzen, Krankenzimmer mit jeweils 2 Betten, eine Poststation und ein Jobcenter. Wenn man sich im Jobcenter anmeldet, ist man krankenversichert.
Herr Heidemann erzählte, dass er am 13. März nach Waldkirch gefahren sei, um ein kontaktloses Fieberthermometer zu besorgen. Vor der Oase werden seit Corona Eingangskontrollen durchgeführt, in der Notunterkunft dürfen nicht mehr 4, sondern nur noch 2 Personen in einem Zimmer übernachten.
Auch wurden Quarantäneräume eingerichtet. Bislang gab es nur Verdachtsfälle, keine Erkrankungen.
Auf die Frage, ob wohnsitzlose Menschen abgehärteter seien als diejenigen, die in Wohnungen leben, wies Herr Heidemann auf das durchschnittliche Sterbealter von Freiburger Obdachlosen hin: 50 Jahre! Bei denjenigen, die in Wohnheimen leben, liegt das durchschnittliche Sterbealter bei 57 Jahren.
Ein Zeit-Artikel vom 7. Mai „Pandemie, ganz unten“ über Obdachlose in ganz Deutschland: „In Deutschland haben 700. 000 Menschen kein
Zuhause, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: Flüchtlinge, EU-Bürger und Deutsche, die ihre Wohnung verloren haben. Viele von ihnen sind in Wohngruppen oder Heimen untergebracht. Etwa 50. 000 schlagen sich auf der Straße durch … Sie sind besonders anfällig für Infektionen, für chronische Atemwegs- und Magenerkrankungen, für Hautausschläge, Diabetes und Herz-Kreislauf-Beschwerden, für Alkohol- und Drogensucht, Angststörungen und Depressionen. Selbst harmlose Erkrankungen können für sie lebensgefährlich werden … Nie war ihre Situation bedrohlicher als jetzt.“ (Caterina Lobenstein)
Warum diejenigen, mit denen wir gesprochen hätten, nicht in der Oase übernachten wollten, fragte ich Herrn Heidemann. Er sagte, das könne er sich gut vorstellen, die Notunterkunft sei ein „hartes Pflaster“, es gebe viele Suchtprobleme, z.T. auch Gewaltnähe. Wer noch eine gewisse Struktur aufrechterhalten könne, der gehe nicht in die Notunterkunft, der schlafe draußen.
Das war neu für uns: dass die Draußen-Schläfer eine gewisse Stabilität haben und brauchen, um ihre Art des Lebens leben zu können.
Beim Essenstreff fand wieder der begehrte Sonntagsbrunch statt: es gab Rührei, belegte Brötchen, Kaffee und Tee, Milchtüten wurden verteilt und draußen am Zaun hingen viele Spendentaschen.
„Klein-Django“, Mk. und Bi. begegnet.
Uns fehlt Anna. Bis Ende Mai ist sie krankgeschrieben.
Niemand von Annas Team arbeitet mehr hier. Es gibt ein neues Team, das von Horst Zahner rekrutiert wurde.
Was ist passiert? Warum ist es passiert?
Ein paar Tage später sind wir U. begegnet, einem früheren Techniker und Regisseur. Mittlerweile lebt er auf der Straße. Aktiv, nützlich und gebraucht fühlt er sich aufgrund seiner freiwilligen Tätigkeit als eine Art Streetworker. Täglich redet er mit den Leuten aus den Stühlinger-Park- und Colombiparkszenen, er hilft, hört zu, kümmert sich.
J. haben wir getroffen. Lang miteinander gesprochen. Lodernd erzählte er uns von seiner Begeisterung fürs Malen und für Farben. „Ich möchte mal einen Workshop für Kinder machen und mit Farben jonglieren.“
Horst Zahner hat Js. Bilder an den neu eingezogenen Stellwänden im Essenstreff ausgestellt; er zahlt ihm eine Leihgebühr.
Leider ist M. nicht mehr so optimistisch wie bei unseren ersten Begegnungen. Ihre Wohnsituation ist schwierig geworden und im Sozialamt traf sie auf eine sehr barsche Sachbearbeiterin (- wie wichtig doch Ton und Verhalten städtischer Angestellter sind! -). Nicht mal mehr die Natur könne sie zur Zeit trösten, in Freiburg würde sie trotzdem gern bleiben.
Im Mai habe ich noch die erstaunliche Fr. kennengelernt: 27 Jahre jung, überaus sympathisch, von zurückhaltender, freundlicher Art.
An Corona findet sie schlimm, dass sie die Zeitschrift „Freie Bürger“ nicht mehr verkaufen und sich in der Pflasterstub nicht mehr warm halten kann. Wie schon erwähnt, durften sich dort erst 7, dann nur noch 3 Gäste – kurz! – aufhalten.
Ansonsten ist Fr. mit ihrem Leben ohne Dach überm Kopf zufrieden. Wenn es nicht zu kalt ist und nicht zu stark regnet. Aber ihr Liebster und sie sind gut ausgerüstet – mit einer Plane, Isomatten, Schlafsäcken und Decken. Fr. mag ihr „Draußen-Heim“. Das Reisen mag sie auch. 500 Kilometer haben ihr Freund und sie im letzten Jahr zurückgelegt. Zu Fuß. Von Marseille bis Barcelona.
Fr. ist seit 2011 obdachlos, sie hat schwere Zeiten durchgemacht, immer wieder hat sie sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. Neben ihrem Lebensgefährten liebt sie ihre weiße Ratte, die könne man „auch als Therapieratte einsetzen“.
Fr. wollte immer schon mit Tieren arbeiten.
Seit Februar in dieser zunächst so fernen Welt unterwegs. Schauend, lesend, plaudernd, fragend.
Nachdem wir die arte-Serie „Aus der Spur“ (man saß ja in letzter Zeit öfters vorm Fernseher) gesehen hatten, wurde uns klar, warum die Begegnungen unter und mit den prekär Lebenden und Obdachlosen oft etwas überraschend Entspanntes hatten. Obwohl es, bei Männern in der Szene, nicht selten ein Nebeneinander von Sanftmut, Friedfertigkeit und vor allem verbal geäußerter Angriffslust gibt, laufen die Begegnungen hier meistens unspektakulär gelassen ab, ohne Blick auf irgendwelche Uhren.
In der eben erwähnten Serie „Aus der Spur“ gerät ein ehemaliger Topmanager in eine scheinbar ausweglose finanzielle Notlage. Vor innerer Anspannung, die Raten nicht mehr bezahlen zu können, eventuell die Eigentumswohnung verkaufen zu müssen, scheint er zu bersten.
Die Leute, die sich beim Essenstreff oder in und vor der Pflasterstub treffen, haben diese Probleme nicht mehr. Sie haben weder ein großes Einkommen noch ein Vermögen, aber: Zeit. Sie sind raus aus der Schuldendruckspirale, raus aus dem Zwang, etwas in der „normalen“ Welt darstellen zu müssen, sie haben ihre eigene Welt. Zum großen Teil sind sie Einzelgänger*innen geworden, gleichzeitig genießen sie ein eigenes gesellschaftlich-geselliges Umfeld mit ihresgleichen. Sie begreifen sich als Außenseiter, sind aber in ihren Kreisen „Insider“, es gibt genug Zeit zum Reden, Sich-Erzählen, Debattieren.
Überraschend waren auch die Ressourcen, die Kraftfelder und inneren Energiespeicher bei vielen prekär Lebenden und Obdachlosen.
Luisa Faller berichtet in ihrer Masterarbeit davon, unsere eigenen Begegnungen bestätigten ihre Beobachtungen.
So gibt es eine große Nähe zum buddhistischen Lob des Nichts-Besitzens, zur Musik und bildenden Kunst, zur Natur und zu Tieren und nicht zuletzt zum SELBER-HELFEN:
Bi. sagt: „Ich bin eine Helferin“ – und das stimmt, Bi. kennt die Sorgen und Nöte aller Pflasterstubbesucher, sie gibt den Neuankömmlingen Rat und hat immer ein offenes Ohr.
U. kümmert sich täglich um diejenigen, die mit Drogen zu tun haben, und als ich letztens aus dem Supermarkt kam – wer redete da voller Zuwendung und fideler Freundlichkeit mit einem auf dem Boden sitzenden Berber? J.! Er gab ihm auch Geld.
Es gibt in dieser Szene viele unerkannte sogenannte „Helper“,„Kümmerer“. Das soll die Kriminalität, das Misstrauen, die immer gegenwärtige Angst vorm Beklautwerden nicht kleinreden, aber es gibt eben auch diejenigen, die sich selber helfen, indem sie anderen helfen.
Fotografie: Renate Obermaier / Heinzl Spagl
Bilder: Johannes
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